Bernhard Wessling

HH-Zukunftsentscheid_Luecken

Hamburger Zukunftsentscheid: erhebliche Lücken / Hinweise zur Überwindung der Schwächen

Nach dem erfolgreichen Zukunftsentscheid vom 12. 9. soll Hamburg schon 2040 klimaneutral werden. Dazu müssen nun einige Aspekte in den Blick genommen werden, die die Initiatoren und Unterstützer offensichtlich übersehen haben:

1) Weder im Forderungskatalog der Initiatoren1, noch in den Studien des Ökoinstituts zusammen mit dem Hamburg Institut2 zur Umsetzbarkeit von Klimaneutralitäts-Zielen findet man auch nur einen einzigen (nicht einmal einen winzig kleinen) Hinweis auf die Rolle und Bedeutung natürlicher und zu renaturierender Ökosysteme im Klimaschutz, die zugleich aber so extrem wichtig für den Schutz der Artenvielfalt wären# (als ob die Krise der Artenvielfalt vernachlässigbar sei). 
– Nur 1 Beispiel: Der Duvenstedter Brook# allein ist (als ein seit Jahrhunderten trockengelegtes ehemaliges Moorgebiet) verantwortlich für 20 bis 30 Tonnen CO2-Emissionen pro Hektar und Jahr3, emittiert also insgesamt schätzungsweise jährlich etwa 15.000 Tonnen CO2. Obwohl seit Ende der 1950er Jahre in der damaligen ersten Naturschutzverordnung das Verfüllen der >200 km Entwässerungsgräben vorgeschrieben war, ist nichts passiert (weil es jahrzehntelang torpediert und vor ca 15 Jahren gestrichen wurde). Der Brook könnte, wenn er wiedervernässt wäre oder würde, etwa 25.000 Tonnen CO2 jährlich speichern, das entspräche einer CO2-Verminderung in der Bilanz in Höhe von 40.000 t/a (aus Vermeidung derzeitiger Emissionen + zusätzlicher Speicherung von CO2 aus der Luft).
#Der Brook ist derzeit keineswegs ein beispielhaftes Naturschutzgebiet; zahllose Tierarten, die zu einem Feuchtgebiet mit Feuchtwiesen gehören, wie Kiebitz, Rohrdommel, Großer Brachvogel uvam, fehlen als Brutvogelarten; die Insektenvielfalt ist mager. Bis auf kleine Flächen wird der Brook entwässert. Wiesen werden maschinell gemäht, anstatt sie (klima- und artenvielfaltswirksam) zu beweiden. Hamburg hat zahlreiche weitere Flächen, die – wenn renaturiert – klima- und artenschutzwirksam sein könnten, das wurde bisher nicht berücksichtigt.

2) Genauso fehlt auch die Biolandwirtschaft in den Konzepten zur Klimaneutralität. Wie aus Anlage 1 ersichtlich ist, speichert z. B. der Kattendorfer Hof4 je nach verwendeten Literaturdaten netto (also nach Abzug der eigenen Emissionen) jährlich zwischen ca 1.000 und über 3.000 Tonnen CO2.5 Zugleich leistet der Hof auf seinen 450 ha Pachtland enorme Beiträge zum Schutz der Artenvielfalt.
– Warum der Artenschwund, diese existenzielle Krise unserer Lebensräume, so wenig Beachtung findet, erklärt sich wohl daraus, dass dieses Thema in den Medien so gut wie nie vorkommt, wie in der Einleitung einer neuen Studie, aus der auch die Zahlen zum Kattendorfer Hof stammen, dargelegt wird.5

3) Statt auf natürliche und renaturierte Ökosysteme sowie Biolandwirtschaft zu setzen, propagieren das Ökoinstitut und das Hamburg-Institut aber CCS2, das eindeutig nicht nachhaltig ist6.
– Nicht nachhaltig heißt: CCS wird schwerwiegende Schäden in anderen Bereichen der Umwelt verursachen, nicht zuletzt auch direkt und indirekt zum Artenschwund beitragen (ebenso DACCS und CCU).

4) Nun könnte man sagen: Hamburg hat nicht genügend Flächen, um über Moore und Biolandwirtschaft CO2 zu speichern, und auch der Kattendorfer Hof liegt nicht auf Hamburger Gebiet. Selbstverständlich reichen die HH-eigenen landwirtschaftlichen sowie Moor-Flächen nicht aus, Hamburg klimaneutral zu machen. Hamburg kann sich aber auch nicht allein von den 17.200 ha landwirtschaftlichen Nutzflächen ernähren: Hamburg ist ein offenes System, eine Stadt, die vom Umland lebt und umgekehrt dem Umland zuliefert.
– Oder werden denn die CCS-Anlagen, die betrieben werden sollen, komplett in Hamburg hergestellt, mit klimaneutral gefördertem Erz aus Hamburger Erzgruben, klimaneutralem Stahl aus einem Hamburger Stahlwerk, betrieben mit Strom und Chemikalien, die in Hamburg klimaneutral bereitgestellt werden?
– Und wird das in HH abgefangene CO2 dann unter Hamburger Gebiet in tiefen Erdschichten gespeichert? 
Nein, CCS-Anlagen würden von auswärts geliefert, und diese würden das CO2  über Pipelines (die auch nicht in HH hergestellt werden) nach Norwegen in die Nordsee exportieren, wo es verpresst würde.
– Ebenso erhält Hamburg fast alle Lebensmittel von außerhalb (vom Ausland ganz zu schweigen), s. u.
– Also sollte das Umland auch mit einbezogen werden in den Hamburger Klima- und Artenvielfaltsschutz!

Zusätzliche *nachhaltige* Maßnahmen, um Klimaneutralität 2040 zu erreichen:
==> Wenn alle Moore in Hamburg und im Umland wiedervernässt würden, könnte vermutlich die gesamten restlichen CO2-Emissionen aus dem HH-Verkehr 2040 (600.000 t/a)2 aufgefangen werden. Man bräuchte dafür nur 20.000 ha wiedervernässte Moore.
==> Die gleiche Menge an CO2 (oder rechnerisch in etwa die 2040-Restemissionen der Abfallwirtschaft)2 könnten auf ca 135.000 ha an biologisch bewirtschafteter landwirtschaftlicher Nutzfläche, sofern analog dem beispielhaft untersuchten Kattendorfer Hof behandelt, abgefangen und in den Böden gespeichert werden. Diese Flächen entsprechen 3,5% der landwirtschaftlichen Nutzflächen in Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein.
    (Für die Ernährung der Hamburger Bevölkerung ist eine sehr viel größere Fläche erforderlich, nämlich etwa 810.000 ha, also das 6fache dessen, was Hamburg für die Speicherung der CO2-Restemissionen 2040 aus Verkehr oder Abfallwirtschaft benötigen würde.7 Für die Ernährung braucht HH rechnerisch 21% der landwirtschaftlichen Nutzflächen in HH, SH und Niedersachsen.8)
==> Zugleich würden bedeutende Beiträge zum Schutz und zur Wiederherstellung der Artenvielfalt geleistet werden.

Anstatt also extrem teure und ungeheuer viel Rohstoffe und Energie verschwendende nicht nachhaltige CCS-Technologie von außen zuzukaufen und das CO2 nach Norwegen zu exportieren und unter der Nordsee einzuspeichern, könnte Hamburg sehr viel kostenkünstiger, zugleich rohstoff- und energiesparend (nämlich komplett ohne zusätzlichen Energie- und Rohstoffbedarf) das CCS ersetzen.
– Dazu müßte Hamburg z.B. nur den jeweils aktuellen Kurs für CO2-Emissionsrechte (derzeit knapp 80 €) an die Eigentümer wiedervernässter Moore bzw. an die entsprechenden Biolandwirtschaftsbetriebe zahlen. Der Artenschutz würde automatisch ohne Zusatzaufwand „mitgeliefert“. Das würde erheblich viel billiger als CCS und zugleich nachhaltig sein.

Dr. Bernhard Weßling, Jersbek bei Hamburg (https://www.bernhard-wessling.com) 18. 10. 2025

3„Moore im Klimawandel“, Studie des WWF Österreich, der österreichischen Bundesforste und des (österreichischen) Umweltbundesamtes, https://www.wwf.at/wp-content/uploads/2021/03/Studie_2011_Moore_im_Klimawandel_WWF_OeBf_UBA.pdf

4https://www.kattendorfer-hof.de, bei Kaltenkirchen; der Hof betreibt 5 eigene Hofläden in Hamburg

5B. Weßling, „Sustainability through Bio-Agriculture: Carbon Dioxide Reduction (CDR) plus Biodiversity Recovery“, submitted for publication, Preprint available via https://www.bernhard-wessling.com/cdr_bioagriculture_sustainability (original englischer Text und deutsche Übersetzung sowie Kurzfassung der Ergebnisse und Konsequenzen aus den Ergebnissen)

6Vgl. verschiedene Verföffentlichungen zu finden über https://www.bernhard-wessling.com/nachhaltigkeit_und_entropie

7Laut einer Studie aus 2017 beträgt der Flächenbedarf pro Kopf in Deutschland für die Ernährung 2.693 m² Ackerland plus 1.655 m² Grünland = 0,435 ha landwirtschaftliche Nutzfläche, vgl. https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/1410/publikationen/2017-09-06_texte_78-2017_quantifying-land-footprint.pdf, gerechnet mit einer Einwohnerzahl von 1.862.565 (laut Wikipedia am 31. 12. 2024); dieser Flächenbedarf geht weit über die im Land vorhandene Nutzfläche hinaus.

8Die 3 Bundesländer weisen zusammen 38.476 km² = 3.847.600 ha landwirtschaftliche Nutzfläche auf, siehe https://www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Landwirtschaft-Forstwirtschaft-Fischerei/Flaechennutzung/Tabellen/bodenflaeche-laender.html (Zahlen per 31. 12. 2024)

Bernhard Wessling