Bernhard Wessling

Bernhard Weßling

Was für ein Zufall – thesenartige Zusammenfassung

Im folgenden stelle ich mein Buch „Was für ein Zufall! Über Unvorhersehbarkeit, Komplexität und das Wesen der Zeit“ (SpringerNature Oktober 2022) in Form kurzer Thesen vor.

Mir ist klar, dass dies ein gewisses Risiko darstellt, denn nun stehen die Thesen ohne Herleitung, ohne Begründung, ohne Belege im Raum. Sie dürfen aber sicher sein, dass dies im Buch nicht der Fall ist, sondern dass alles sehr wohl hergeleitet und dargelegt ist. Ich wünsche mir interessante, angeregte Diskussionen.

1) Es wird ausschließlich der sog. „essenzielle Zufall“ (Definition nach Jacques Monod1) behandelt, also solche zufälligen Ereignisse, für die die Eintritts-Wahrscheinlichkeit extrem nahe Null liegt. Beispiele: Mutationen (nicht „dass“ eine Mutation auftritt, sondern was für eine mit welchen Folgen); Tore oder Nicht-Tore in der Nachspielzeit; Verzweigung in Baumkronen, Muster von Blättern; Schneeflockenstrukturen; Mündungsdelta von Flüssen wie auf dem Buchcover; Wetter; Klima. Mit Zufällen, die sich wahrscheinlichkeitsmathematisch untersuchen lassen, beschäftigen wir uns in dem Buch nicht. Es gibt keine Ereignisse ohne diesen zugrunde liegende Ursachen.

2) Die oben genannten Beispiele zeigen, dass „Komplexität“ eng mit Zufall zusammenhängt.

3) Komplexität in Prozessen und Strukturen entsteht nach Ilya Prigogine (Nobelpreis 1977 für seine Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik) durch Export von Entropie aus einem System heraus aufgrund überkritischem Import von Energie und Materie in offene Systeme hinein; damit sind solche Systeme weit vom thermodynamischen Gleichgewicht entfernt.

– Ich erkläre „Entropie“ in sehr leicht verständlichen Worten und mit Beispielen aus dem Alltag (und das nicht wie üblich mit dem banalen Beispiel schlecht aufgeräumter Kinderzimmer oder Schreibtische).

4) Es wird deutlich, dass – im Gegensatz zum weit verbreiteten Wunsch nach „Gleichgewicht“ überall – unsere Welt, unser Leben, die Erde, die Ökosysteme, die Wirtschaft, das gesamte Uiversum sich nicht im Gleichgewicht befindet, sondern im thermodynamischen Nicht-Gleichgewicht. „Gleichgewicht ist Verfall und Tod.“ (Ludwig von Bertalanffy)

– Die Forderung im Grundgesetz, wonach das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht angestrebt und erhalten bleiben müsse, ist aus thermodynamischen Gründen nicht erfüllbar.

5) Der Zufall entsteht in Nicht-Gleichgewichts-Systemen durch die Nicht-Linearität fast aller dort stattfindenden Prozesse.2 Er ist wesentlicher Bestandteil des Eigenschaftsspektrums von Nicht-Gleichgewichts-Systemen, in denen wir leben (auch „Gesellschaften“ sind solche Systeme).

6) Die weithin schnell dahergesagte und für bewiesen gehaltene Ansicht, der Zufall werde durch die Eigenschaften der Elementarteilchen, der Quanten, erzeugt, ist mit der Dekohärenztheorie nicht vereinbar. Diese Ansicht ist zudem weder durch theoretische Darlegungen, noch durch irgendwelche experimentellen Beobachtungen belegt.

7) Diese Ansicht entspringt dem Glauben (der Überzeugung) v. a. vieler Physiker und im Gefolge Philosophen und Wissenschaftsjournalisten, dass es eine grundlegende Quanten-Theorie geben müsse und geben werde, die alles in unserer Welt, alle Gesetzmäßigkeiten, die wir auf höheren Ebenen der Organisation der Materie kennen bzw. untersuchen, erklären kann. Beispiel: Die Evolutionstheorie werde sich letztlich auf das Verhalten der Quanten zurückführen lassen (Reduktionismus).

– Damit wird die Tatsache geleugnet, dass auf jeder höheren Ebene der Organisation der Materie durch dortige spezifische Wechselwirkungen neuartige Gesetzmäßigkeiten erst entstehen, solche Gesetzmäßigkeiten, die sich nicht auf Naturgesetze tiefer liegender Ebenen zurückführen lassen – „Emergenz“.

8) So gibt es „Entropie“ auch erst mit der Entstehung der Materie „nach“ dem Beginn des Universums, Entropie ist eine emergente Größe.

9) Damit kommen wir zum Wesen der Zeit: Auch die Zeit ist ein emergentes Phänomen. Sie entsteht durch den Fluss der Entropie und ist gewissermaßen das „Flussbett“, eine „Matrix“, worin Entropie fließt. Zeit ist proportional zum Entropiefluss, also gibt es keine absolute Zeit, sondern in jedem Subsystem seine eigene Zeit.

– Daraus folgt die Möglichkeit der experimentellen Überprüfung meiner Hypothese im Weltraum bei hohen Geschwindigkeiten bzw geringer Gravitation (Relativitätstheorie).

10) Das Empfinden von Zeit bei uns Menschen darf nicht verwechselt werden mit dem Wesen der Zeit, genausowenig, wie wir unser Empfinden von Farben und Formen nicht mit dem Wesen des Lichts (elektromagnetische Wellen) oder mit dem Empfinden von Geräuschen und Tönen mit dem Wesen des Schalls (Luftdichteschwankungen) in einen Topf werfen dürfen. Die Zeitempfindung ist gekoppelt mit (oder wird verursacht durch) Prozesse in den Zellen, die ebenfalls Entropiefluss erzeugen, wie jede andere Uhr auch.

1Im Buch auf Seite 37 lautet der 1. Satz meiner Beschreibung des „essenziellen Zufalls“: „Essenzielle Zufälle sind solche Ereignisse, die unter gegebenen Bedingungen tatsächlich eingetreten sind, aber im Vergleich zu anderen möglichen Ereignisketten eine extrem geringe oder nicht einmal berechenbare Eintrittswahrscheinlichkeit hatten.“

2Auf S. 179 fasse ich zusammen: „Der Zufall entsteht an Verzweigungspunkten in dieser komplexen Eigenschaftslandschaft der Nicht-Gleichgewichte, der Instabilität und Nicht-Linearität dieser Systeme. Und das ist es, was unser Leben und die gesamte Natur ausmacht. Während sich die Strukturen und Vorgänge fernab vom Gleichgewicht bilden, während also Entropie im Übermaß exportiert wird, gelangt jedes System immer wieder an Weggabelungen, an denen es verschiedene Richtungen einschlagen kann. Dies führt vor allem dann zu zufälligen Ereignissen, wenn sich zwei oder mehr Kausalketten überschneiden. Kausalketten, die zuvor voneinander unabhängig waren, sich unabhängig voneinander entwickelt hatten.“

Bernhard Wessling