Rezension: Das Buch von Sabine Hossenfelder „Mehr als nur Atome – Was die Physik über die Welt und das Leben verrät“
Die Autorin geht in ihrem Buch z. T. von Prämissen aus, die zumindest fraglich, wenn nicht sogar falsch sind.
Beispiel 1: Sie erläutert am Beispiel der Herstellung eines Kuchenteigs (S. 86 ff), dass die unvermischten Bestandteile einen Zustand niedrigerer Entropie darstellten, der Teig selbst nach der Fertigstellung einen Zustand deutlich höherer Entropie habe. Denn alle Bestandteile1 seien weitgehend statistisch homogen verteilt, deshalb hohe Entropie. Das ist aber falsch, denn Dispersionen sind hoch strukturiert und weisen eine niedrigere Entropie auf als die einfache Summe der Bestandteile.2 Hier widerspricht sie ihrem eigenen Anspruch, wonach Theorien unsere Beobachtungen erklären können müssen; die von ihr dargestellte Theorie erklärt aber die bekannten Beobachtungen an Dispersionen nicht (auch ein „Kuchenteig“ ist eine Dispersion).3
Beispiel 2: In vielerlei Hinsicht werden die Eigenschaften der Quanten (der Elementarteilchen mit ihrer „Unschärfe“) als Grundlage von allem angesehen, was wir auf der makroskopischen Ebene beobachten. So heißt es auf S. 122 (und wird danach weiter ausgeführt), dass die tiefste Ebene der Organisation der Materie „bestimmt“, was auf den höheren Ebenen geschieht. Auf der tiefsten Ebene finde man die fundamentalen Gesetze der Physik, und aus denen leiteten sich alle weiteren Gesetze auf höheren Ebenen ab. Dabei missachtet sie, dass die sog. „umweltbedingte Quanten-Dekohärenz“ genau die Unschärfe und alle weiteren Eigenschaften der Quanten verschwinden lässt: Schon Atome verhalten sich nicht mehr wie Quanten, Moleküle und dann Zellen erst recht. (Die Dekohärenz wurde theoretisch von H. D. Zeh dargelegt und experimentell von Serge Haroche nachgewiesen, wofür der letztere den Nobelpreis erhielt.) Generell entstehen auf höheren Ebenen der Organisation der Materie, beginnend mit den Atomen, aufgrund der Wechselwirkung der verschiedenen Bestandteile eines dynamischen Systems jeweils neue Phänomene und Gesetzmäßigkeiten, das nennt man „Emergenz“ (oder auch: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“)
Die verstorbene Großmutter ist auch nicht mehr, wie im Buch behauptet wird, letztlich doch noch in Form von „ewiger Information“ irgendwo und irgendwie im Universum enthalten, und theoretisch sei jede Information jederzeit nachvollziehbar. Nein, „Information“ bleibt nicht ewig erhalten: Der Anstieg der Entropie im Maßstab des Universums vernichtet Information, vermutlich in Schwarzen Löchern. Daneben ist es nämlich wichtig zu verstehen: Entropie sinkt lokal im Zusammenhang mit dem Aufbau komplexer Strukturen (sog. „dissipativer Strukturen“), sei es in Dispersionen, oder beim Wachstum der Pflanzen und Tiere, beim Beginn des Lebens und der Evolution, der Entwicklung der Komplexität von Gesellschaften, bei der Entstehung und weiteren Entwicklung von Galaxien. Außerhalb dieser jeweiligen offenen Systeme, im Gesamtmaßstab des Universums, steigt die Entropie an.
Beispiel 3: In Kapitel 7 wird behauptet, es gebe bisher keine Theorie, die die Komplexität in unserer Welt erklären könne. Also die komplexen Strukturen, die wir überall finden, in Pflanzen, Ökosystemen, in menschlichen und auch den tierischen Gesellschaften, der Wirtschaft und sogar auch der Galaxien im Universum. Das stimmt ganz einfach nicht, denn es gibt schon lange die sog. „Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik“, für deren Entwicklung Ilya Prigogine 1977 den Nobelpreis erhielt (die ich hier in der Kürze natürlich nicht darlegen kann).4
Aus allein schon diesen 3 Beispielen ergibt sich, dass die Welt nicht, wie Frau Dr. Hossenfelder glaubt und den Lesern darzulegen versucht, „deterministisch“ (oder gar „superdeterministisch“) ist: Die Entwicklung der Komplexität der Welt ist nicht vorausschauend berechenbar, aus der Vergangenheit ergibt sich nicht eindeutig bestimmt die Zukunft. Wenn man rückwärts betrachtet erklären, verstehen, beschreiben oder sogar berechnen kann, warum und wie etwas passiert ist, heißt das noch lange nicht, dass man es auch vorwärts (wenn man noch nicht weiß, was geschehen wird) gesehen hätte berechnen können; denn rückwärts sieht (und berücksichtigt) man die anderen zum Zeitpunkt der Ereignisse vorliegenden alternativen Entwicklungsmöglichkeiten nicht, die gibt es nicht mehr, vorwärts aber sehr wohl!
Die Theorien, die die Autorin lediglich andeutet (jedenfalls nicht hinreichend erklärt), macht keine überprüfbaren Voraussagen, sie hilft uns nicht, die Welt besser zu verstehen, und wir können keine Experimente entwerfen, mit denen wir sie verifizieren oder falsifizieren können (hier benutze ich Formulierungen, wie sie die Autorin selbst häufig verwendet). Und wir brauchen sie nicht, um das, was wir beobachten, zu erklären – weil die Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik die Dynamik und Komplexität der Welt hinreichend gut erklärt und tragfähige Anleitungen liefert, die Theorie zu verifizieren und detaillierter auszugestalten. Alles, was in der Zukunft geschieht, hat zwar seine Ursachen in der Vergangenheit, aber die Komplexität von Ursachen erlaubt ständig mehrere unterschiedliche Wege in der Zukunft, das wissen wir aus unseren eigenen Entscheidungen – und im Universum ist es auch in der unbelebten Materie nicht anders. Und manche weiteren, nach Ansicht der Autorin direkt aus „fundamentalen“ physikalischen Gesetzen ableitbaren Schlussfolgerungen über die gesamte Welt und unser Leben darin sind alles andere als direkt ableitbar, im Gegenteil: sogar sehr zweifelhaft.
1 u. a. die Zuckermoleküle und die Mehl-“Moleküle“ (wie die Autorin schreibt), die es aber so gar nicht im Teig gibt, weil Mehl im Teig nicht molekular gelöst, sondern in Form von Teilchen dispergiert vorliegt, im Gegensatz zum Zucker, der molekular gelöst vorliegt
2 Vgl. https://www.researchgate.net/publication/202290104_Critical_Shear_Rate_-_the_Instability_Reason_for_the_Creation_of_Dissipative_Structures_in_Polymers
3 Lösungen und Dispersionen sind absolut gegensätzliche Systeme, die ersteren befinden sich im thermodynamischen Gleichgewicht, die letzteren sind nicht-Gleichgewichts-Systeme.
4 Ilya Prigogine, Nobelpreis 1977, https://www.nobelprize.org/prizes/chemistry/1977/press-release/, vgl. eine populärwissenschaftliche Einführung in B. Weßling, „Was für ein Zufall! Über Unvorhersehbarkeit, Komplexität und das Wesen der Zeit“, SpringerNature 2022, https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-37755-7